Rhododendron
Sarah Geisler, 2018
Die Wahrheit ist: Wenn Gereon Hundsdorfer um 9:02 Uhr seinen Computer hochfährt und der Appell aufpoppt, er möge ein Systemupdate durchführen, dann denkt er an seine Haustür. Oder genauer: an den Moment, an dem er sie abends wieder hinter sich ins Schloss fallen lässt. Manchmal kommt der Gedanke erst, wenn Gereon in der Pause einen Schluck dünnen Filterkaffee nimmt, aus einer der präironischen Tassen (Die ersten fünf Tage nach dem Wochenende sind die schlimmsten, wenn er der Erste in der Kaffeeküche ist, Liebe ist…, wenn der Letzte). Manchmal kommt der Gedanke aber auch schon auf dem Parkplatz. Vergangene Woche zum Beispiel, da hat ihm ein Kollege von einem EDV-Problem erzählt, da hatte seine Arbeitszeit noch gar nicht begonnen. Wenn Gereon auf „Heute Nacht versuchen“ klickt, legt sich der verinnerlichte Klang der sich hinter ihm schließenden Tür trostvoll auf seine Gram. Genauso wie das prächtige Wildschwein auf dem Bildschirmhintergrund. Fünf Stunden hatte er im Regen ausgeharrt, 2006 war das, in der Schorfheide. Aber er hat es keine Sekunde bereut. Noch 27 Jahre arbeiten, sagt Gereon, – wenn die Zinsen so bleiben –, dann ist der Kredit für das Einfamilienhaus abbezahlt. Es wurde dann ja doch alles teurer als geplant. Die Bodenplatte, die überdachte Garage, die Sicherheitsfenster. Allein was so eine elektrische Jalousie kostet! Daran will man gar nicht denken. Gereon und seine Frau haben deshalb viel selbst angepackt. Bis spät in der Nacht haben sie Handwerkerforen durchforstet und Tipps für die Installation von Bewegungsmeldern ausgedruckt. Das Bad hat Gereon alleine verfugt. Man sieht es ein bisschen, sagt Gereon, aber sauberer hätten das die Polen auch nicht hingekriegt. Einmal haben die beiden sogar die Außenfassade neu gestrichen – in blassem Orange und mit weißen Rahmen um die Fenster herum. Wie in der Toskana. Dabei wollten Gereon und seine Frau sich eigentlich trennen, da war der Rohbau noch nicht mal trocken. Er wollte rote Dachziegel, sie blaue. Er wollte die Rigipswand zum Kinderzimmer gleich aufziehen, sie von dem Geld lieber nochmal in Urlaub fahren. Das Still-nebeneinanderher-Arbeiten, das Erschöpft-ins-Bett-Fallen, auch ein bisschen die gemeinsame Abneigung gegenüber den Nachbarn und seine gusseisernen Beschläge hat sie dann aber immer wieder zusammengebracht. Wir haben den gleichen Humor, sagt Gereon, auch das hilft. Am Kühlschrank der Hundsdorfers haftet ein großer Magnet, A clean kitchen is a sign of a wasted life. Darüber lachen Gereon und seine Frau oft und herzlich, auch jetzt, sie lachen den Streit weg und die Irritationen der Besucher gleich mit; bei den Hundsdorfers folgt der Abwasch der Mahlzeit wie dem Blitz der Donner.
Mit dem Kind hat es dann doch nicht geklappt. Seit Kurzem haben Gereon und seine Frau aber einen Rhododendron. Gereon hat ihn so nah an die Hecke gepflanzt, dass der Nachbar, wenn überhaupt etwas, dann nur den penetranten Duft abkriegt. Von dem leuchtenden Magenta der Blüten jedenfalls sieht er nichts, da kann er sich den Hals noch so sehr verdrehen. Dass der Rhododendron schlecht wächst, weil er durch den ständigen Schatten der Hecke nicht genug Sonne abbekommt, nimmt Gereon in Kauf. Mit einer hohen Hecke verhält es sich eben ein bisschen wie mit einem Vollrausch, sagt Gereon. Nicht alles daran ist schön, aber sie ermöglicht einem, sich aus der Welt zu lösen und trotzdem in ihr zu sein.
* Möglicherweise heißt Gereon Hundsdorfer in Wirklichkeit Helga Hundsstädter. Auch ist nicht gesagt, dass der Rhododendron nicht doch ein Zwergflieder ist, und Gereon gar kein Spießer. Um das abschließend zu klären, hätte er uns schon reinlassen müssen.